Begleitend zum Kongress hat der Fachbereich Kindertagesstätten die Broschüre "Gut gelebter Alltag in evangelischen Kindertagesstätten" herausgegeben.
"Manchmal ist weniger Programm mehr Bildung.“ Diese Losung gab Sabine Herrenbrück vom Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) an die Teilnehmerinnen aus Hessen und Teilen von Rheinland-Pfalz aus. Selbsttätiges Lernen in Alltagssituationen soll stärker in den Fokus gerückt werden. Es geht um „Gut gelebten Alltag in evangelischen Kindertagesstätten“, so der programmatische Kongress-Titel.
Persönlichkeitsbildung ist Kerngeschäft
Fertige Bildungsprogramme sollten nicht mehr die pädagogische Arbeit überfrachten. „Wir müssen uns auf das Kerngeschäft Persönlichkeitsbildung besinnen.“ Für Kinder biete der Alltag selbst die besten Bildungs- und Entwicklungschancen. Die wesentliche Bedeutung von Alltagssituationen wie das Ankommen in der Einrichtung, Essen, Körperpflege und vor allem Spielen müssen neu bewertet werden. Denn, so Herrenbrück, „alltagsintegrierte Bildung ist begleitetes Lernen am Leben“.
Bildung ist ein sozialer Prozess
Fachliche Unterstützung bekam das Zentrum Bildung von der Tübinger Erziehungswissenschaftlerin Renate Thiersch. Sie versteht Bildung vor allem als sozialen Prozess und Auseinandersetzung mit der Welt. Alltägliche Dinge sind eine Dimension von Bildung. Zwar könne es verführerisch sein, fertige Lehrpläne auch in der Kita anzuwenden. Doch wisse man inzwischen, dass kleine Kinder sich ihr Wissen vor allem in sogenannten „informellen Bildungsgängen“ aneigneten, beim Spielen, in der Beziehung zu anderen Kindern und zu Erwachsenen. Kinder sollen Kompetenzen zur Bewältigung ihres täglichen Lebens erwerben. Dazu gehöre mit Gefühlen umgehen zu können, Erwartungen und Wünsche auszudrücken, zurückstecken zu können, aber auch Widerständen standzuhalten und Ordnung halten zu können.
Gegen die Überfrachtung mit Bildungsprogrammen
Die Evangelische Kirche kehrt nicht von frühkindlicher Bildung ab, sondern bewertet die Alltagsbildung in der Kita neu und wehrt sich gegen die Überfrachtung mit zu viel Bildungsprogrammen.
Rückblick. Vor knapp 15 Jahren schockte die erste Pisa-Studie die deutsche Öffentlichkeit. Die Leistungen der Schüler im Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften erwiesen sich im internationalen Vergleich als unterdurchschnittlich. Industrie und Wirtschaft schlugen Alarm.
Dem Pisa-Schock folgte hektischer Reformeifer. Politiker erklärten Kitas zu Bildungsstätten und ließen Pläne und Programme für die Kleinkindpädagogik auflegen, auch in Hessen und Rheinland-Pfalz. Bildungs- und Förderprogramme waren plötzlich ein Markenzeichen und Qualitätsnachweis der modernen Kita des 21. Jahrhunderts. Allerdings wurde der Kita-Alltag mit diesen Programmen stark verplant. Bildungswissenschaftler sprechen inzwischen vom Förderwahn und schlagen Alarm.
5.400 Erzieherinnen in 600 Evangelischen Kitas für mehr als 41.000 Kinder
Die Evangelische Kirche ist der erste freie Träger, der sich öffentlich für ein Umdenken stark macht. Sabine Herrenbrück, will nun Politik und Wirtschaft überzeugen. Die Fachbereichsleiterin Kindertagesstätten im Zentrum Bildung vertraut darauf, dass die Kompetenz und die Stimme des größten freien Trägers von Kindertageseinrichtungen in Hessen mit rund 5.400 Erzieherinnen und Erziehern in 600 Evangelischen Kindertagesstätten, die für mehr als 41.000 Kinder da sind, zählen.
Kirche will Erzieherinnen den Rücken stärken
Mit der Neubewertung der Alltagsbildung will die Evangelische Kirche auch ihren Mitarbeitenden den Rücken stärken. Unter dem hohen Erwartungsdruck der Politik, der Eltern und der Wirtschaft sind sie verunsichert und überlastet. Denn Kitas sollen unablässig expandieren: Mehr Plätze, mehr Bildung, mehr Kooperation mit Eltern und Schule. „Wir können die Welt aber nicht im Kindergarten retten“, dämpft Sabine Herrenbrück die Erwartungen an Erzieherinnen. Die Herausforderung besteht darin, die Kerninhalte von Bildungsprogrammen in die Alltagssituationen zu integrieren. Wo Bildung längst zum Alltag gehört, sollen die Erzieherinnen sie für Eltern sichtbar machen und ihre gute Arbeit selbstbewusst nach außen vertreten.
Nur gespielt und viel gelernt!
Um die professionelle Gestaltung der Alltagspraxisund die täglichen Lernerfahrungen ging es denn auch in den zahlreichen Workshops des Kita-Kongresses in Gießen. Teilhabe der Kinder an Entscheidungen, Tages- und Raumgestaltung, Mahlzeiten und Rituale, Körpererfahrungen und beziehungsvolle Pflege von Säuglingen und Kleinkindern, so lauteten die Themen der gut besuchten Arbeitsgruppen. Im Workshop „Nur gespielt und viel gelernt!“ ging es um „Spielen als Königsdisziplin des Lernens“. Kinder wollen spielen. Eltern wollen Förderung. „Was als Gegensatz erscheint, ist ein Traumpaar“, ermutigte die Pädagogin und Publizistin Margit Franz die Teilnehmerinnen. Wenn Kinder ausreichend Zeit zum Spielen finden, werden sie später den schulischen Anforderungen umso besser gerecht werden können, gab sie den Erzieherinnen mit.
Erzieherinnen fühlen sich bestätigt
Die Praktikerinnen vor Ort fühlten sich bestätigt. Etwa die Erzieherin und Leiterin der Kita der Evangelischen Lukasgemeinde in Gießen, Sibylle Merkel. „Die spielerischen Lernprozesse in der Kita werden unterschätzt.“ Auf der Wippe beispielsweise lernen schon die Kleinsten, miteinander die richtige Anzahl von Kindern auf beiden Seiten zu verteilen, um mit Spaß wippen zu können. Hier geht es ganz selbstverständlich ums Zählen und Rechnen, um physikalische Gesetze von Gewicht und Schwerkraft, nicht zuletzt um soziale Erfahrungen von Ausgleich und Solidarität. „Denn wer abspringt, lässt die anderen in der Luft hängen. Das lernen sie ganz schnell“, weiß Sibylle Merkel.
Manche Eltern haben schon das Abitur im Blick
Das tägliche Lernen müsse stärker zum Vorschein kommen, ergänzt ihre Kollegin Anita Konrad aus der Evangelische Kita „Rote Schule“ im Gießener Ortsteil Kleinlinden. „Bildungseinrichtung waren wir schon immer, aber das wurde nicht wahrgenommen“, sagt die Erzieherin, die über gut 30 Jahre Berufserfahrung verfügt. In den letzten Jahren seien den Kindertageseinrichtungen Programme übergestülpt worden. Kitas, die nicht mitmachen wollen, riskieren Fördergelder zu verlieren, klagt Stefanie Bieneck, ebenfalls von der „Roten Schule“. Darüber hinaus forderten Eltern zusätzliche Bildungsangebote wie etwa Früh-Englisch, Musikunterricht oder Entspannungs-Yoga. Dass manche Eltern schon das Abitur ihrer Kleinkinder im Blick haben, sei keine Erfindung des Kabaretts.
Soziale Kompetenz ist nicht messbar
„Im Gegensatz zur gelernten Tonleiter oder ersten Englisch-Vokabeln ist der Erwerb sozialer Kompetenz nicht messbar“, sagt Stefanie Bieneck. Es ist schwierig, sich von den überzogenen Bildungserwartungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft abzugrenzen. Für sie waren der Kongress und der Austausch in den Workshops eine „Bestätigung dessen, was wir im Kita-Alltag für die Kinder, die Familien und die Gesellschaft seit langem leisten“.
(Bericht von Matthias Hartmann, Öffentlichkeitsarbeit Dekanat Gießen)